Zur bereits 40. Folge des Podcasts gibt es das erste Interview mit zwei Gesprächspartnern gleichzeitig. In der vergangenen Ausgabe haben wir die klassischen Möglichkeiten der Markt- und Gästesegmentierung beleuchtet sowie sinnvolle und praktikable Ansätze für die Hotellerie herausgearbeitet.
In dieser Folge stehen neue Ansätze der Zielgruppeneinteilungen im Vordergrund. Konkret geht es um gemeinsame Wertegefüge und Sinus-Milieus. Mit Dr. Bertram Barth und Alexandra Mossakowski kommen zwei absolute Sinus-Experten zu Wort, die sich in ihrer Forschung sehr intensiv mit dem Wertewandel in der Gesellschaft und den Auswirkungen auf die Sinus Milieus beschäftigen.
Herr Dr. Barth ist geschäftsführender Gesellschafter der INTEGRAL Markt- und Meinungsforschungsgesellschaft in Wien, und Frau Alexandra Mossakowski ist eben dort qualitative Forscherin und Leiterin der Feldabteilung.
Transkript dieser Podcast-Folge
Marco: Hallo Herr Barth, hallo Frau Mossakowski, vielen Dank, dass Sie sich heute Zeit genommen haben. In der Einleitung habe ich bereits einige Worte zu Ihnen, zu INTEGRAL und zu unserem heutigen Thema gesagt, aber stellen Sie sich unseren Hörerinnen und Hörern doch bitte selbst noch einmal vor. #00:01:55-5#
A. Mossakowski: Mein Name ist Alexandra Mossakowski, und mein Aufgabengebiet bei INTEGRAL ist die Qualitative Forschung. Außerdem bin ich Leiterin der Feldabteilung. Als Qualitative Forscherin begleite ich unsere Kunden von der Forschungsfrage bis zum Abschlussbericht. Dazu gehören konkrete Empfehlungen sowie all die vielen dazwischen liegenden Schritte des Forschungsdesigns. Mit Hilfe von strategischen Workshops und Langzeitberatungen geht es anschließend in die Folgeprojekte des Kunden. Das geschieht im Kontext der Sinus-Milieus, die auch heute unser Thema sein werden. #00:02:44-2#
B. Barth: Ich bin Bertram Barth, Geschäftsführer der INTEGRAL Markt- und Meinungsforschungsgesellschaft. Während meiner beruflichen Laufbahn habe ich mich mit den unterschiedlichsten Dingen beschäftigt, aber mein Schwerpunkt liegt auf der Kommunikation, der Segmentierung und auf den Sinus-Milieus. Seit zehn Jahren verwenden wir in Österreich die Sinus-Milieus sehr intensiv, und unser Institut ist an der ständigen Weiterentwicklung beteiligt. Ich freue mich, dass wir die Sinus-Milieus in den unterschiedlichsten Bereichen gut einsetzen können, unter anderem im Tourismus. #00:03:26-4#
Marco: Vielen Dank, damit haben Sie uns bereits einige Stichworte für unser heutiges Thema genannt. Wir werden uns den touristischen Nutzen der Sinus-Milieus anschauen. Sie haben erwähnt, dass INTEGRAL dieses System bereits seit zehn Jahren für Österreich adaptiert hat, und dass Sie an der Weiterentwicklung beteiligt sind und sich auf auf die Forschung spezialisiert haben. Was macht INTEGRAL im Gesamten aus, unabhängig von den Sinus-Milieus? Wofür steht INTEGRAL? #00:04:00-5#
B. Barth: INTEGRAL gibt es seit 1987. Wir sind ein Markt-, Meinungs- und Sozialforschungsinstitut, das in den unterschiedlichsten Bereichen arbeitet. Unser Ziel ist es, hilfreiche Informationen zur Entscheidungsfindung zur Verfügung zu stellen, zum Beispiel für Politik und Marketing. Wir erstellen entscheidungsrelevante Daten, mit denen sowohl Empfänger als auch Verwender von Angeboten etwas anfangen können. #00:04:50-2#
Für diese Aufgaben sind die Sinus-Milieus relevant, denn sie helfen uns, prägnante Zielgruppen zu definieren. Gleichzeitig sind sie ein Mittel, um gesellschaftliche Entwicklungen zu erkennen. Einen Wertewandel untersuchen wir systematisch und machen ihn nutzbar, zum Beispiel für Anwender im Bereich des Marketings. #00:05:22-5#
Marco: Das ist gerade im Tourismus ein relevantes Thema, zu dem wir bereits gemeinsam ein Projekt durchgeführt haben. Die entsprechende Podcastfolge mit dem Titel „Hotelzimmer und Gäste“ werde ich gerne verlinken. Was sind Sinus-Milieus, und was unterscheidet sie von der klassischen soziodemografischen Marktsegmentierung? #00:05:51-9#
B. Barth: Sinus-Milieus bieten die Möglichkeit, Menschen aufgrund ihrer grundlegenden Werte und Einstellungen zu verstehen. Ihre Kriterien sind aus der Notwendigkeit entwickelt worden, Zielgruppen, die man früher über Alter, Geschlecht, Wohnort und Bildung definiert hat, prägnanter zu erfassen. Diese Definitionen sind im Laufe der Zeit immer unschärfer geworden. Heute geht es stärker um die Individualisierung. Traditionelle Bindungen wie Berufsgruppen oder Staatsangehörigkeiten spielen eine geringere Rolle. Allerdings ist der Mensch keine Insel, sondern er strebt weiterhin danach, sich in Gruppen zu vergemeinschaften. Da sich diese Zugehörigkeitsgruppen jedoch verändern, kommen neue Bestimmungsmerkmale ins Spiel: die Wertegemeinschaften. Es geht also um Menschen, die sich aus den traditionellen Verbindungen gelöst und individualisiert haben. Die Zugehörigkeit zu diesen Wertegruppen werden in den Sinus-Milieus abgebildet. Mit ihnen erfassen wir Zielgruppen prägnant und verhaltensnah und erstellen entsprechende Prognosen. Wir können Wahrscheinlichkeiten voraussagen und definieren, in welchem Milieu die Menschen welches Verhalten an den Tag legen. #00:07:35-4#
Außerdem können wir die Menschen dadurch besser verstehen. Wir tauchen in Welten ein, die uns selbst fremd sind. Wir, die wir heute diesen Podcast gestalten, und auch diejenigen, die zuhören, sind wahrscheinlich aus einem Bereich der Performer oder Postmateriellen angesiedelt. Um Menschen zu verstehen, die weit weg sind, zum Beispiel aus dem hedonistische Milieu, müssen wir dieses Milieu genau beschreiben und seine Werteausrichtungen nachvollziehen. Genau dabei hilft uns das Modell der Sinus-Milieus, denn es hilft uns zu verstehen, wie andere Welten funktionieren. #00:08:04-9#
Marco: Sie haben drei Sinus-Milieus angesprochen, nämlich die Performer, die Postmateriellen und die Hedonisten. Milieus sollen uns vor allem dabei helfen, den Menschen zu verstehen. In unserem Fall sind das die potenziellen Gäste. Womöglich sind die derzeitigen Gäste nicht diejenigen, die ich gerne anziehen möchte. Milieus können mir helfen, die Erwartungen meiner Wunschgäste besser zu verstehen und sie erfüllen zu können. Gibt es Milieus, die aus touristischer Sicht relevanter sind als andere? #00:08:55-9#
A. Mossakowski: Es gibt zehn Milieus, und fünf davon treffen auf Menschen zu, die überdurchschnittlich viel verreisen. Das sind die Etablierten, die Performer, die Postmateriellen, die Digitalen Individualisten und die Adaptiv-Pragmatischen. Das deckt sich auch mit dem Report, den Sie anfangs erwähnt hatten und bei dem es um Hotelzimmer und Gäste ging. Das sind genau die fünf, die dort genauer beschrieben sind. Etablierte gehören einem gehobenen Milieu an, einer leistungsorientierter Elite mit einem hohen Traditionsbewusstsein. Auch die Performer gehören zu Leistungselite. Sie sind flexibel und global orientiert. Und die Postmateriellen sind Teil eines weltoffenen, intellektuell gebildeten Milieus, das sehr kulturinteressiert ist. #00:10:03-1#
Die letzten beiden Genannten gehören zu den Zukunftsmilieus. Das sind die Adaptiv-Pragmatischen, eine neue flexible Mitte. Und die Digitalen Individualisten kann man auch mit dem Begriff Lifestyle-Avantgarde beschreiben. Diese Milieus werden in den nächsten Jahren am stärksten wachsen, und sie werden auch die Gruppe sein, die für den Tourismus am wichtigsten ist, weil sie viel verreisen. Beim Städtetourismus sehen wir ein Cluster aus den gehobenen Schichten, also etablierte Performer und Postmaterielle, die Kunst, Kultur und Weltoffenheit suchen. Im Städtetourismus findet man wiederum auch viele Digitale Individualisten, die in die Kultur, oft Sub- und Pop-Kultur, eintauchen wollen. #00:10:57-6#
Bei der Ferienhotellerie sehen wir ein Cluster der Mitte. Dort befinden sich die Adaptiv-Pragmatischen, die Performer und die Etablierten. Die Adaptiv-Pragmatischen sind die neue flexible Mitte. Sie machen Familienurlaub und suchen Erholung und Entspannung. In der gehobenen Szene, bei den Etablierten und Performern, geht es um eine Mischung aus Aktivität und Entspannung. Das sind erste Hinweise darauf, dass es enorm wichtig ist zu wissen, wen man anspricht. Wenn ich meine Zielgruppe genau kenne, dann kann ich entsprechende Angebote maßschneidern. #00:11:36-0#
Marco: Sie haben einen spannenden Punkt angesprochen, nämlich die Milieus der Zukunft. Das sind die Adaptiv-Pragmatischen und die Digitalen Individualisten. Die Milieus unterliegen einem ständigen Wandel. Wie schnell verändern sich die Fokusgruppen mit ihren Werteorientierungen? Sprechen wir über Zeiträume von mehreren Jahrzehnten? #00:12:15-9#
B. Barth: Die Größenordnungen der Zukunftsmilieus verändern sich ständig und schrittweise. Wir gehen davon aus, dass wir pro Jahr circa 2 Prozent Veränderung erleben, aber das lässt sich nicht auf die nächsten 50 Jahre hochrechnen. Zwar ändern sich die Größenverhältnisse, aber nicht die Wertorientierungen der einzelnen Gruppen. Wir gehen davon aus, dass Wertesozialisierung im Jugendalter stattfindet, meist im Alter zwischen 10 und 14 Jahren. Diese Phase nennen wir die formative Phase. Unsere Gesellschaft bietet einen Wertevorrat, und aus diesem bedienen sich die Jugendlichen, meist über die Peer Group der Eltern oder Lehrer. Diese Werteorientierung wird dann durch die ersten biografischen Ereignisse wie Berufs- und Partnerwahl verstärkt. #00:13:32-0#
Wir gehen davon aus, dass Orientierung und Zugehörigkeit zu einem Cluster im Alter von 18 bis 20 Jahren stabil ausgeprägt sind. Der Vorteil der Sinus-Milieus ist ihre Planbarkeit. Die ermittelte Zugehörigkeit bleibt, das heißt, man kann sie auf die Zukunft projizieren. Wer heute adaptiv-pragmatisch ist, der bleibt es in der Regel auch in fünf Jahren. #00:13:59-8#
Marco: Das heißt, die Wertesammlung, die wir uns während des Heranwachsens aneignen, ist in der Regel mit etwa 20 Jahren abgeschlossen. Danach verändern wir uns nur noch wenig, egal, welchen Umwelteinflüssen wir ausgesetzt sind. #00:14:14-4#
B. Barth: Genau so ist es. Das klingt erstaunlich, weil wir erleben, wie schnelllebig die Lifestyles sind. Aber wir müssen unterscheiden zwischen dem flüchtigen Lebensstil und den stabilen Werteorientierungen. Die ästhetische Orientierung beziehungsweise die aktuellen Modeerscheinungen und Tendenzen, die können von Jahr zu Jahr variieren, aber die grundlegende Ausrichtung, die dahintersteckt, bleibt stabil. Die Digitalen Individualisten zum Beispiel streben immer danach, sich als Pioniere zu profilieren. Sie probieren unterschiedliche Rollen aus und legen diese wieder ab, wenn sie nicht passen. Digitale Individualisten sind keine neuen Menschen, sondern sie sind Persönlichkeiten, die sich variabel präsentieren, um anderen immer einen Schritt voraus zu sein. In ihrer Grundhaltung „ich will zeigen, was ich kann und dass ich mich in der ästhetischen Orientierung viel besser auskenne als die anderen jungen Menschen“ bleiben sie jedoch gleich. Deshalb sind sie gezielt adressierbar, zum Beispiel mit touristischen Angeboten. #00:15:41-2#
Marco: Bleibt diese Grundorientierung bis zum Alter erhalten? Wir haben gelernt, dass sich die Werte in den ersten 20 Jahren festlegen und danach trotz neuer Lebenserfahrungen nicht mehr grundlegend ändern. Mir scheint, als spielen die Erfahrungen, die man während des Heranwachsens macht, eine große Rolle. Welche Erkenntnisse haben Sie dahingehend erlangt? #00:16:12-9#
B. Barth: Erfahrungen prägen die Alltags- und Lebensgestaltung natürlich sehr stark. Es ist ein Unterschied, ob ich als Single lebe oder mit Familie, ob ich in der Stadt oder auf dem Land lebe. Die grundlegende Sicht auf die Welt bleibt jedoch konstant. Ein Performer, der Single ist, fährt womöglich einen schnittigen Sportwagen, um zu zeigen, dass er einen gewissen Status erreicht hat, aber wenn dieser Performer Familie hat, dann wird er wahrscheinlich eher einen teuren SUV fahren. Die Alltagsgestaltung ist unterschiedlich, aber die Intention, die dahintersteckt, bleibt gleich. #00:17:22-6#
Marco: Das könnte auch ein Vorteil sein bei der Einteilung in die Sinus-Milieus. Ich kann die Gruppen entkoppelt betrachten von meinem bisherigen Verständnis von Markteinteilungen wie Alter, Beruf und Wohnort. Diese werde ich vielleicht weiterhin benötigen, aber wenn ich meine Gäste auf der Werteebene erreichen will, dann helfen mir die Sinus-Milieus besser. #00:17:47-4#
B. Barth: Genau. #00:17:46-7#
Marco: In Vorbereitung zu unserem heutigen Gespräch habe ich ein wenig recherchiert und noch andere Unterscheidungsgruppen wie die Limbic Types gefunden, die sieben Typen unterscheiden. Die Sinus-Milieus sind nicht die einzigen Klassifizierungsmöglichkeiten, die versuchen, Wertegefüge zusammenzufassen. Was macht die Sinus Milieus besonders, und warum benötigt man die vielen verschiedenen Gruppenunterscheidungen? #00:18:11-0#
B. Barth: Die Unterscheidung in zehn Gruppen ist ein Kompromiss. Sie symbolisieren die minimalen Anforderungen an die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Mit unseren zehn Milieus konzentrieren wir uns in der praktischen Anwendung auf einige wenige Typen. Das ist sehr wichtig, denn wir können nicht mit allen zehn Gruppen gleichzeitig reden, sondern wir suchen uns einige davon aus. Um diese zehn definieren zu können, benötigen wir die ganze Bandbreite an Differenzen. #00:19:00-9#
Es gibt unendlich viele Lifestyle-Modelle. Die Limbic Types sind ein spezielles Modell, das auf neuropsychologischen Erkenntnissen beruht. Man geht davon aus, dass Steinzeitmenschen das Gleiche gefühlt haben wie wir heutigen Menschen. Mag sein, dass das ein Marketing-Argument ist. Ich finde es nicht überzeugend, weil die gesellschaftlichen Entwicklungen, die wir beobachten, rasant sind. Wir versuchen, unsere Milieus immer wieder an diese Entwicklungen anzupassen, um für unsere Zielgruppen relevant zu bleiben. Mit den Sinus-Milieus bieten wir Erkenntnisse zu realen Menschen an, zusammengefasst in unterschiedliche Typen. Damit wecken wir Verständnis für diese Menschen und erleichtern die Kommunikation mit ihnen. Wir haben einen Kompromiss gefunden zwischen einer angemessenen Differenzierung und der praktischen Handhabung des Systems. #00:20:05-9#
Marco: Vielen Dank, das ist ein wichtiger Punkt, der uns aufzeigt, wo die Unterschiede liegen. Sie haben eingangs erwähnt, dass INTEGRAL die Sinus-Milieus für den österreichischen Markt weiterentwickelt, und das führt mich zur nächsten Frage. In Deutschland haben diese Milieus andere Namen. Was unterscheidet ein deutsches Milieu von einem österreichischen oder von einem Schweizer Milieu? Gibt es einen Unterschied in der Größenordnung? #00:20:41-1#
B. Barth: Die Milieu-Modelle wurden länderspezifisch definiert. Die Kategorien entwickeln wir aus qualitativen Explorationen heraus. Wir setzen uns mit den Menschen zusammen und ergründen, was ihnen wichtig ist. Dabei erkennen wir Unterschiede zwischen den drei Ländern. Auf dem DACH-Markt Deutschland, Österreich und Schweiz gibt viele Gemeinsamkeiten, aber auch Eigenarten. Das muss man wissen, wenn man die Leute verstehen will. In Österreich haben wir eine sehr gute soziale Absicherung, und deswegen haben die Leute weniger Angst vor einem sozialem Abstieg als in Deutschland. Das ist ein ganz wichtiger Unterschied im Lebensgefühl vieler Milieus. In Deutschland gibt es das Prekäre Milieu, das Menschen beschreibt, die mit dem Rücken zur Wand stehen. In Österreich haben wir diese Gruppe nicht, sondern wir sprechen von der Konsumorientierten Basis. Im Gegensatz zu den Prekären in Deutschland hat diese Gruppe nicht das Gefühl, aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein. #00:22:02-8#
Es gibt auf jeden Fall Stereotype. Die Gesellschaft in Österreich ist insgesamt hedonistischer und hat weniger vom deutschen Pflichtbewusstsein. Insgesamt sind die Österreicher konservativer als die Deutschen. Österreich ist eine Gesellschaft, die sich langsam entwickelt. Dort ist bei den Sinus-Milieus noch das Konservative Milieu vorhanden, das wir in Deutschland längst aufgegeben haben. #00:22:47-1#
In der Schweiz hingegen haben wir ein System, das sehr stark von Eigenverantwortung bestimmt ist. Die liberale Grundhaltung in der Schweiz lehnt staatliche Eingriffe ab. Diese Einstellung gibt es weder in Deutschland noch in Österreich. Die Bürgerlichen in der Schweiz sind gleichzeitig liberaler als die entsprechende Gruppe in Deutschland und Österreich. Auf jeden Fall gibt es sehr viele Unterschiede zwischen den drei Ländern. Man kann eine grobe Planung machen, aber wenn man die Menschen adressieren will, dann sollte man die landesspezifischen Besonderheiten beachten. #00:23:28-0#
Marco: Wenn ich ein Hotel im Westen Österreichs betreibe, dann muss ich mich auch an den deutschen Milieus orientieren. Habe ich jedoch einen hohen Inländeranteil, dann, orientiere ich mich eher an den österreichischen Typisierungen. Im Idealfall teile ich meine Gäste genau auf diese Bereiche auf und untersuche dann sie dann nach den jeweiligen Kriterien. Wie kann ich die Eingruppierung meiner Gäste zielsicher gestalten, ohne dass ich alle einzeln befragen muss? Ich erinnere mich an ein Angebot von der Post, die anhand von Adressdaten Milieus definieren konnten. Dieses Angebot wurde im Zuge des Skandals um angebliche Datenschutzverletzungen wieder eingestellt. Welche Möglichkeiten habe ich als Hotelier, meine Gäste zielgerichtet zu segmentieren? #00:24:39-8#
A. Mossakowski: Der erste Schritt ist die Erkenntnis, dass es wichtig ist, sich mit den Zielgruppen auseinanderzusetzen. Man kann nicht alle Menschen erreichen. Das funktioniert in keiner Markenwelt. Ich schlage vor, sich zunächst die bestehenden Gäste anzusehen und ein Gefühl dafür zu bekommen, aus welchen Welten sie kommen. Auf unserer Webseite integral.co.at präsentieren wir umfassende Informationen zu den Sinus-Milieus, die man mit den eigenen Beobachtungen abgleichen kann. #00:25:47-9#
Der nächste Schritt dreht sich um die Frage, ob meine derzeitigen Gäste meine Wunschgäste sind oder ob ich meinen Betrieb in eine andere Richtung entwickeln möchte. In diesem Fall muss eine Entscheidung getroffen und die Zielgruppe definiert werden. Welche Sinus-Milieus sind bereits vorhanden, und welche muss ich mir noch erarbeiten? Das führt mich zu der Empfehlung, nicht mehr als zwei bis drei Milieus auszuwählen. Es gibt einzelne Branchen, die weitere Gruppen abdecken können, aber im touristischen Bereich ist das nicht empfehlenswert. Falls gewünscht, steht INTEGRAL für vertiefende Beratungen gerne zur Verfügung. Wir können Fragen klären, und wir können die Kernmilieus definieren. Dabei muss man auch auf die benachbarten Milieus beachten, um sie nicht zu verärgern. Diesen Weg können wir begleiten, und das ist der Anfang. #00:27:09-7#
Marco: Klassische Feldexploration: Ich befasse mich mit der Materie, indem ich beobachte und eine Selbsteinschätzung durchführe. Sie haben erwähnt, dass man maximal drei Milieus festlegen sollte, und da ergibt es natürlich Sinn, angrenzende Gruppen auszuwählen. #00:27:29-8#
A. Mossakowski: Es sei denn, Sie haben mehrere Betriebe, die an unterschiedlichen geographischen Punkten arbeiten und somit unterschiedliche Zielgruppen abholen können. Zwei bis drei Zielgruppen reichen, wenn man die Überlappungsflächen beachtet. #00:27:55-8#
Marco: Es hat viele Vorteile, die eigenen Milieus zu kennen. Wenn ich sie zielgerichtet anspreche, habe ich nur Gäste, die zu meinem Angebot passen. Sie sind wahrscheinlich zufriedener, und ich erhalte gute Bewertungen und weniger Beschwerden, weil ich ein passendes Wertegefüge bediene. Dann kann ich auch auf die unterschiedlichen Bedürfnisse Rücksicht nehmen, zum Beispiel auf die Inneneinrichtung des Hotelzimmers. Auch das hat Auswirkungen auf die Ansprache und das Wording. Hier möchte ich nochmal einen Querverweis auf unsere Studie „Hotelzimmer und Gäste“ anbringen, an der Sie, Frau Mossakowski, intensiv mitgearbeitet haben. Welche Erfahrungen haben Sie im Zusammenhang mit der Innenarchitektur machen können? #00:29:01-0#
A. Mossakowski: Wir hatten einige Aha-Momente, und zwar auch auf Seiten der Architekten. Für die einzelnen Milieus konnten wir gute Lösungen erarbeiten. Als Beispiel möchte ich die Digitalen Individualisten anführen, mit denen wir uns auseinandergesetzt haben. Diese Typisierung beschreibt die Trends setzende, individualistisch-vernetzte Lifestyle-Avantgarde. Wer diese Zielgruppe ansprechen möchte, kann im Einrichtungsstil sehr eklektisch werden und mit einem bunten Stilmix experimentieren. Das halten diese Menschen aus, und das möchten sie auch erleben. #00:29:52-6#
Eine Zielgruppe der Gehobenen und Etablierten wird man mit einem solchen Stil eher verärgern, weil sie von einem Hotel etwas Anderes erwarten. Von daher muss man sich gut überlegen, wen man im Hause haben möchte. Bei den Digitalen Individualisten sind viele schöne Ideen entstanden, wie beispielsweise, eine Hängematte im Zimmer zu platzieren. Eine andere Möglichkeit ist, die Zimmer zu verkleinern und stattdessen den Community-Bereich zu vergrößere, denn diese Gruppe vernetzt sich und lernt gerne neue Leute kennen. Einladende Community-Bereiche bieten dafür eine gute Möglichkeit. Das ist für einen Etablierten aus dem gehobenen Milieu nicht interessant, denn der bevorzugt wahrscheinlich ein genussvolles Abendessen im kleinen Kreis. #00:30:58-6#
Marco: Die Milieus sollen nicht nur anders angesprochen werden, sondern es müssen auch ihre unterschiedlichen Bedürfnisse berücksichtigt werden. Das gilt auch für Design und Innenausstattung eines Hotels. Je nach Lebenssituation kann man den Gruppen unterschiedliche Interessen zuordnen und sie besser bedienen. #00:31:35-1#
A. Mossakowski: Absolut richtig. Man muss die richtigen Signale setzen, damit sich das Milieu gut abgeholt fühlt, auch, wenn es auf einer subkutanen Ebene ist. Ein Flügel im Lobbybereich kommt bei den Etablierten gut an, denn es signalisiert, dass das Hotel kultiviert ist. Das ist genau der Anspruch dieser sehr kulturinteressierten Gruppe. Wenn man um die Lebenswelt der Etablierten und um ihr Bedürfnis nach Hochkultur weiß, dann kann man solche Signale bewusst setzen. Sie finden eine angenehme Atmosphäre vor, die sie womöglich ihren Freunden empfehlen. Das ist gerade im Tourismusbereich sehr wichtig. Am besten wäre es, einen Klavierspieler an den Flügel zu setzen, um diese Gäste zu 100 Prozent abzuholen. #00:32:31-8#
Marco: Das wäre der Idealfall. Ich höre heraus, dass sich vieles auf der unterbewussten Ebene abspielt. Wenn ich weiß, worauf ich zu achten habe, dann wird mein Konzept funktionieren. #00:32:51-3#
A. Mossakowski: Unsere Kollegen in Berlin sprechen von einer „sozialen Haut“, die man gerade im Hotelbereich möglichst gut widerspiegeln sollte. Sie hatten gerade das Wording erwähnt, ein sehr wichtiger Begriff, denn für die Ansprache ist es essenziell zu wissen, auf was die Gäste ansprechen. Die Etablierten achten auf die Professionalität der Webseite eines Hotels, auf Ausdruck und Ästhetik, und das muss sich in allen Online-Kanälen widerspiegeln. Bei den Digitalen Individualisten hingegen, die unsere Lifestyle-Avantgarde sind, kann ich syntaktisch freier arbeiten. Werbemaßnahmen können, genauso wie der Einrichtungsstil, sehr eklektisch sein. Besser eine atmosphärische Darstellung als ein langer Fließtext. Die Kommunikation muss in den jeweiligen Gruppen unterschiedlich sein, und deswegen ist es wichtig, die Zielgruppe genau festzulegen. Dann kann ich mich in die Sphären vertiefen und an den einzelnen Bereichen wie Wording, Ausstattung und Angebotsgestaltung arbeiten. #00:34:15-0#
Marco: Stichwort „Corona“. Wir haben festgestellt, dass die Digitalen Individualisten und die Adaptiv-Pragmatischen die Milieus der Zukunft sein werden. Inzwischen haben Umweltbewusstsein und Nachhaltigkeit einen wichtigen Platz in unserer Lebenswelt eingenommen. Gefühlt sind hauptsächlich die Jungen auf der Straße, die im Wertegefüge noch beeinflussbar sind. Ist das Milieu der Zukunft nicht eher ein erwachsenes, postmaterielles? Wie beeinflussen solche großen, weltpolitischen Themen, die uns alle betreffen, die Milieuzusammensetzungen? #00:35:16-8#
B. Barth: Die Grundorientierung reflektiert in einer gewissen Hinsicht auch das, was in der Gesellschaft insgesamt ankommt. Das Problembewusstsein hat in den letzten Jahren zugenommen, und die Tendenz geht immer mehr in Richtung Nachhaltigkeit. Das ist unbestritten in ganz Europa so. Die Relevanz des Klimawandels und der Nachhaltigkeit ist deutlich gestiegen, und zwar bei fast allen Milieus in Österreich. Auf der anderen Seite haben wir die Gruppe der Postmateriellen, die auch früher schon großen Wert auf Nachhaltigkeit gelegt hat und sich jetzt bestätigt fühlt. Dieses Milieu scheint im Moment zu wachsen, und das liegt daran, dass sich auch junge Menschen damit identifizieren. #00:36:37-1#
Man findet in allen Milieus ein gewisses Problembewusstsein und auch eine Erwartungshaltung, dass man das Thema nicht ignorieren darf. Speziell in der Hotellerie muss man auf diese Entwicklungen reagieren und sich entsprechend gut positionieren, um die einzelnen Gruppen nicht abzuschrecken. #00:37:31-7#
Marco: Demnach sind gesellschaftliche Mega-Trends milieuübergreifend. #00:37:41-4#
B. Barth: Genau. Es gibt diverse Umfragen zum Thema Umweltbewusstsein, und wir finden immer große Mehrheiten, die zumindest verbal die Wichtigkeit des Themas unterstreichen. Wieder etwas Anderes ist es jedoch, wenn es darum geht, was jeder persönlich bereit ist, für das Klima zu tun. Es ist ein Massenthema. Wir finden Mehrheiten von 60 bis 80 Prozent in unserer österreichischen Bevölkerung, die sagen, dass man sich um den Klimaschutz kümmern muss. Man kann das Thema nicht ignorieren. Natürlich kann man den unterschiedlichen Milieus vorwerfen, sie würden sich im täglichen Leben nicht darum kümmern, aber trotzdem muss man das Thema ernst nehmen. Und gerade im Bereich Tourismus geht es den Etablierten und Postmateriellen um die Nachhaltigkeit, aber auch andere Milieus sollte man in diesem Rahmen mitbedenken. #00:38:44-0#
Marco: Nachhaltigkeit und Digitalisierung sind demnach ein Thema, das bei fast allen Gruppen omnipräsent ist und was ich auf jeden Fall beachten muss. Das waren viele interessante Inputs, vielen Dank schon einmal dafür. Bei INTEGRAL schauen Sie sich sehr intensiv die gesellschaftlichen Entwicklungen und die Wertegefüge an. Was erwartet uns sonst noch, unabhängig von den beiden Zukunftsmilieus? Gibt es neben Nachhaltigkeit und Digitalisierung weitere Trends, die an Wichtigkeit zunehmen? Spüren Sie auch andere Ausprägungen, die als gemeinschaftliche Relevanz spürbar sind? #00:39:48-5#
B. Barth: Wir sehen im Moment einige Anzeichen dafür, dass sich großflächig etwas ändert in der Stellungnahme zu wichtigen Themen wie Privatheit, Gesellschaft und Verantwortung. Wir haben den Eindruck, dass wir in eine neue Wertephase eintreten. In den 1980er und 90er Jahren hatten wir eine starke Dynamisierung, ausgehend von der Entwicklung des Internets und der Globalisierung. Das war die Zeit, in der man dachte, das Internet würde alles verändern und es würde nie wieder Wirtschaftskrisen geben. Und dann hatten wir in den Nuller-Jahren eine Phase der Ernüchterung, die einherging mit einem Bedürfnis nach festem Boden unter den Füßen. Eine Krise folgte der nächsten, und man hatte das Gefühl, nichts mehr kontrollieren zu können. Daraus folgte ein Rückzug ins Private. #00:40:52-5#
Jetzt sehen wir wieder eine Gegenbewegung, hin zu gesellschaftlicher Verantwortung, natürlich auch beeinflusst durch den Klimawandel. Man kümmert sich jetzt wieder mehr um das, was draußen in der Welt und in der Gesellschaft vor sich geht. Das scheint im Moment der neue Trend zu sein. Nach der Übersättigung und nach der Verängstigung durch die großen Veränderungen geht man mit dem Wandel in Zukunft zielstrebiger, offener und gesellschaftsbezogener um. #00:41:35-1#
Marco: Sind die Auswirkungen auch durch den Trend spürbar, vom Eigentum wegzukommen, hin zur Sharing-Economy? #00:41:51-0#
B. Barth: Das ist natürlich ein Bestandteil. Die Digitalisierung hat unterschiedliche Aspekte, und sie bringt uns eine starke Dynamisierung, die manchmal mit einer Überforderung der Menschen einhergeht. Gleichzeitig kann man gesellschaftliche Prozesse im Rahmen der Digitalisierung sinnvoll gestalten. Sharing passt auch zum Nachhaltigkeitsthema und zur digitalen Vergemeinschaftung von Menschen, die etwas voranbringen wollen. Es gibt einige Anzeichen dafür, dass die digitale Entwicklung nicht mehr nur für das individuelle Fortkommen verwendet wird, sondern auch für soziale Projekte. #00:42:36-0#
Marco: Gibt es neben der Feldexploration und der notwendigen Beobachtung noch weitere Tipps für Hoteliers? #00:42:51-5#
A. Mossakowski: Ich möchte gerne drei Punkte benennen. Definieren Sie Ihre Zielgruppe. Setzen Sie sich anschließend mit den Menschen, die Sie ansprechen wollen, auseinander, zum Beispiel über die Sinus-Milieus. Das ist wichtig für Sie als Marke und für Ihre Zukunft. Und drittens, maßschneidern Sie Ihre Angebote für Ihre Zielgruppe im Sinne einer Positionierung. Damit begeistern Sie Ihre Gäste, denn Sie treten in Beziehung mit ihnen. Im besten Falle dauert diese Beziehung über den Aufenthalt hinaus und wiederholt sich. Das ist Markenarbeit, und die bedingt, dass man sich mit Zielgruppen auseinandersetzt, egal in welcher Branche. #00:43:49-2#
Es gibt ein schönes Zitat von Bodo Flaig, dem Erfinder des Sinus-Gesellschafts- und Zielgruppenmodells. Es lautet, „nur, wer versteht, was die Menschen bewegt, kann sie bewegen“. Das fasst die Message wunderbar in einem Satz zusammen. Genau darum geht es im Marketing. Das passende Instrument können die Sinus-Milieus sein. Wir laden Sie herzlich dazu ein. #00:44:11-0#
Marco: Vielen lieben Dank für die wunderbaren Schlussworte. Frau Mossakowski, Herr Barth, ich bedanke mich für das spannende Interview. #00:44:24-2#
Weiterführende Informationen
Integral versteht Marktforschung als einen ganzheitlichen Prozess, der bei der Erhebung der Daten beginnt, welche erst durch ihre Übersetzung in Information Mehrwert bieten. Integral steht für ein motiviertes Team mit langjähriger und umfassender Marktforschungserfahrung.
Im August 2009 übernahm INTEGRAL die Anteilsmehrheit des Heidelberger SINUS-Instituts. Sinus-Milieus® sind Zielgruppen, die es wirklich gibt – ein Modell, das Menschen nach ihrer Grundhaltung und Lebensweise gruppiert. Die Sinus-Milieus® betrachten die realen Lebenswelten der Menschen